Eine umfassende Interpretation der Texte Bertholds, die von neueren Fragestellungen ausgeht und
interdisziplinär angelegt ist, ist nach wie vor ein Desiderat. Im folgenden nennen wir einige
relevante Einzel- und Detailstudien:
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Helmut Stahleder, "Das Weltbild Bertholds von Regensburg", in: Zeitschrift für Bayerische
Landesgeschichte 37, 1974, S.728-798. Der Titel verspricht weit mehr als der trocken-positivistische Inhalt bietet.
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Der Aufsatz von Irmela von der Lühe / Werner Röcke,
"Ständekritische Predigt des Spätmittelalters am Beispiel Bertholds von Regensburg",
in: Dieter Richter (Hrsg.), Literatur im Feudalismus, Stuttgart: Metzler 1975
(=Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft 5), 41-82, ist demgegenüber ergiebiger.
Lühe/Röcke interpretieren Berthold ausgehend von seiner positiven Bewertung der Arbeit bereits als eine Figur
der Epochenschwelle. In diesem Zusammenhang weisen sie auch auf die zentrale "Ambivalenz"
(48: 70) der Texte Bertholds hin: Obzwar sie bereits innerhalb des Horizonts
einer sich abzeichnenden frühneuzeitlichen Gesellschaft stehen, rufen sie gleichwohl dazu auf, die traditionelle
Ordnung zu bewahren. Nicht mehr ganz aktuell wirkt allerdings die "materialistische" Perspektive, aus der
Lühe/Röcke argumentieren. Vgl. auch das Nachwort von Werner Röcke
zu dem von ihm 1983 herausgegebenen Reclam-Band mit Berthold-Predigten.
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Wichtig noch immer: Anton E. Schönbach, Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt,
Teil 2: Zeugnisse Bertholds von Regensburg zur Volkskunde, Wien 1900 (= Sitzungsberichte der kais.
Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-historische Klasse Bd. CXLII).
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Der Aufsatz von Georg Steer: "Leben und Wirken des Berthold von
Regensburg", in dem Grazer Ausstellungskatalog 800 Jahre Franz von Assisi, hg. v. Johannes
Gründler 1. Aufl. Wien 1982, S.169-175, bietet eine gut lesbare Zusammenfassung der Forschungsergebnisse zu
Bertholds Biographie.
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Dieter Richters Untersuchung über Die deutsche Überlieferung der Predigten Bertholds von Regensburg.
Untersuchungen zur geistlichen Literatur des Spätmittelalters, München: Beck 1969, bietet genaue
Handschriftenbeschreibungen sowie die Erstveröffentlichungen einiger Predigten von Berthold. Ferner revidierte
Richter einige Thesen von Schönbach; seine eigenen Ergebnisse zum Verhältnis der lateinischen und der
mittelhochdeutschen Berthold-Predigten und zu Echtheitsfragen sind in der Forschung durchweg akzeptiert
worden (vgl. Werner Röckes Nachwort zu den von 1983 ihm herausgegebenen
Reclam-Band zu Berthold).
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Aaron J. Gurjewitsch, "Die 'Anthropologie' und 'Soziologie' Bertholds von
Regensburg", in: Ders., Stimmen der Mittelalters - Fragen von heute. Mentalitäten im Dialog,
Frankfurt/Main-New York, 1993, 41-78. Eine insgesamt enttäuschende, weil wenig analytische
Auseinandersetzung mit einigen Berthold-Predigten (vor allem "Von den fünf pfunden" und "Von
zehen koeren der engelen unde der kristenheit").
Es dominiert die Nacherzählung. Gurjewitsch interpretiert Berthold zwar zutreffend als eine Person auf der
Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, doch fehlt eine weitergehende Reflexion auf die Bedingungen der
Möglichkeit einer solchen Position. Die Überlegungen bleiben dementsprechend an der Oberfläche.
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Aaron J. Gurjewitsch, "Persönlichkeit, Berufung, Reichtum und Rettung in der Predigt Bertholds von
Regensburg", in: Ders., Stumme Zeugen des Mittelalters. Weltbild und Kultur der einfachen Menschen,
Weimar-Köln-Wien 1997, 152-220. Eine - offenbar - erweiterte Fassung des in dem
Bändchen "Stimmen des Mittelalters" vorgelegten Aufsatzes, für die im Kern dasselbe gilt wie für
diesen: Bertholds Positionierung auf der Epochenschwelle ist zu wenig reflektiert (vgl. z.B. 207). Immerhin
beschäftigt sich Gurjewitsch ausführlicher als in dem Aufsatztext mit dem "gewachsenen Einfluß der
städtischen Werte auf die ethischen Orientierungen Bertholds" (189), auch betont er deutlicher Bertholds
emphatisch vertretenen 'Heilsindividualismus' sowie Bertholds Eintreten für eine radikal gefaßte
Willensfreiheit. Vor allem letzteres setzt Gurjewitsch in Beziehung zu den genannten 'städtischen Werten'
und sieht in der Fokussierung der Predigttexte auf diese Themen eine Voraussetzung für Bertholds Popularität:
"Die Tendenz der Geistlichkeit und des Mönchtums, den religiösen Inhalt des Lebens der Gläubigen zu
vertiefen, trifft hierbei auf die Tendenz der städtischen Schichten der Feudalgesellschaft, ihre Freiheit als unabdingbare
Voraussetzung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung zu verstärken." (194) Wie dies allerdings
mit Bertholds ebenfalls - und zu Recht - konstatiertem Konservativismus zusammenpaßt, bleibt ungeklärt.
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Berthold und seine Texte können angemessen nur von dem Kontext her verstanden werden, in dem
sie entstanden sind: Der Umbruchsepoche Spätmittelalter/Frühe Neuzeit. Abweichend vom mainstream
der gegenwärtigen mediävistischen Forschung (vgl. Ernst Schubert, Einführung in die deutsche
Geschichte im Spätmittelalter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, der unter dem Begriff
"Spätmittelalter" die Zeit von 1300 bis 1500 faßt) beginnt für uns diese Epoche der
mittelalterlichen Gesellschaft bereits um das Jahr 1000, als "neuartige Ketzergruppen" (Herbert
Grundmann) in Frankreich, Italien und Deutschland gemeldet wurden. "Aufbruch" (Karl Bosl)
und "Krise" (Frantisek Graus) sind dabei von vornherein miteinander verschränkt. Im folgenden
nennen wir einige einschlägige Texte:
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Das grundlegende, trotz seiner Bejahrtheit noch viel zu wenig rezipierte Werk zum Epochenumbruch
Mittelalter/Frühe Neuzeit stammt aus der Feder von Hans Blumenberg und heißt
Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1966, rev. Ausg. 1996. Blumenbergs
Rekonstruktion der Epochenschwelle Spätmittelalter - Frühe Neuzeit bildet (trotz einiger
Vorbehalte) die Basis für die von uns hier vertretene Interpretationshypothese.
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Für Probleme, die sich mit der Thematisierung von Epochenübergängen generell stellen,
sind zu konsultieren: Hans-Ulrich Gumbrecht / Ursula Link-Heer (Hrsg.),
Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie,
Frankfurt / Main: Suhrkamp, 1985 und
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Reinhart Herzog / Reinhart Koselleck (Hrsgg.), Epochenschwelle und
Epochenbewusstsein, München: Fink 1987 (=Poetik und Hermeneutik 12).
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Wichtige historiographische Grundlagen für unser Verständnis eines "langen" Epochenübergangs
sind die Arbeiten von Karl Bosl, insbesondere Europa im Aufbruch. Herrschaft, Gesellschaft, Kultur vom 10. bis
zum 14. Jahrhundert, München: Beck 1980. Bosl, der die Wurzeln des Umbruchs zu Recht bis
ins 10. Jahrhundert zurückreichen läßt, interpretiert diese Entwicklung allerdings zu einseitig aus einer
affirmativ-aufklärerischen Perspektive als Vorgeschichte einer einsinnig-positiv verstandenen Moderne.
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Mit Einzelaspekten, die für das Verständnis der Lebenswelt Bertholds relevant sind (wie die
Kaufmannsmentalität), beschäftigen sich Cord Meckseper / Elisabeth Schraut (Hrsgg.),
Mentalitäten und Alltag im Spätmittelalter, 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1991.
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Ein farbiges Bild der spätmittelalterlichen Umwelt Bertholds zeichnet Harry Kühnel (Hrsg.),
Alltag im Spätmittelalter, Graz: Styria 1984.
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Aus der Sicht der Archäologie wird das spätmittelalterliche Stadtleben detailliert und plastisch dargestellt in dem
schönen Ausstellungskatalog Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300, hg. vom
Landesdenkmalamt Baden-Württemberg und der Stadt Zürich, Stuttgart: Theiss, 1992.
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Berthold von Regensburg gehörte als Mitglied der Franziskaner zu einem der neuen Bettelorden, die selbst bereits
Phänomene jener Neuzeit waren, gegen die Berthold so unablässig polemisierte. Kenntnisse des Franziskanismus,
seines sozialhistorischen Hintergrunds und seiner Theologie sind daher unverzichtbar für jede Beschäftigung
mit Berthold.
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Eine bemerkenswerte Franziskus-Biographie verfaßte
Raoul Manselli: San Francesco,
Bulzoni: Roma 1982 (3. Auflage) (Biblioteca di cultura 182).
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Die einschlägige Einführung in den Franziskanismus in deutscher
Sprache bietet Helmut Feld, Franziskus von Assisi
und seine Bewegung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.
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Umfassend, wenngleich aus traditioneller Perspektive, der Grazer Ausstellungskatalog
800 Jahre Franz von Assisi, hg. v. Johannes Gründler
1. Aufl. Wien 1982; darin auch ein Aufsatz von Georg Steer
zu Berthold von Regensburg.
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Ausgehend von einer Würdigung William Ockams beleuchtet den Franziskanismus als
Phänomen der Epochenschwelle das facettenreiche Buch von Otl Aicher,
Gabriele Greindl, Wilhelm Vossenkuhl, Wilhelm von Ockham.
Das Risiko modern zu denken, 2. Aufl. München: Callwey 1987.
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Die Untersuchung von John B. Freed, The Friars and German
society in the Thirteenth century, Cambridge/Mass. 1977 setzt
im ersten Teil das Aufkommen der Bettelorden in Deutschland im 13. Jahrhundert
in Zusammenhang mit der Entwicklung und zunehmenden Bedeutung der Städte.
Im zweiten Teil untersucht Freed die soziale Herkunft der Mitglieder des
Franziskaner- und des Dominikanerordens und die Konsequenzen für die
jeweilige politische Bedeutung der beiden Orden. Das zugrundegelegte Material
samt Quellennachweisen wird in zwei Appendices präsentiert:
I. die Gründungsdaten aller Franziskaner- und Dominikaner-Konvente und
II. die namentlich bekannten Franziskaner und Dominikaner und ihre Herkunft.
Mit Verweis auf Rieder wird Berthold im zweiten Appendix
als Patrizier identifiziert.
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Unumgänglich zum Verständnis des heutigen Interesses am
hoch- und spätmittelalterlichen Franziskanismus ist nach wie
vor Umberto Eco, Der Name der Rose, München: Hanser 1982.
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Eine erste Überblicksinformation liefert der Katalog
Ratisbona sacra. Das Bistum Regensburg im Mittelalter,
hg.von den Kunstsammlungen des Bistums Regensburg, bearb. von Peter Morsbach,
1989 (= Kunstsammlungen des Bistums Regensburg / Diözesanmuseum
Regensburg: Kataloge und Schriften 6).
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Karl Bosl, Die Sozialstruktur der mittelalterlichen Residenz- und Fernhandelsstadt
Regensburg, München 1966 (=Abhandlungen der Bayerischen Akademie der
Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., Neue Folge 63). Eine ausführliche Darstellung der
sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung Regensburgs bis zum Ausgang des Mittelalters; eine
Hauptfrage Bosls ist die nach Entstehung und Aufstieg des 'Bürgertums' und
damit indirekt auch nach den sozialhistorischen Bedingungen der Bettelsordenspredigt.
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