Berthold von Regensburg
Kurzbiographie & Ansatz






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© Nadja Nitsche
& Michael Dobstadt

3. Juni 2001

Auf dieser Seite findet sich zunächst eine kleine Kostprobe aus Bertholds 23. Predigt, sodann eine Kurzbiographie, die auf den Informationen beruht, die in einschlägigen Lexika (z.B. im Lexikon für Theologie und Kirche oder dem sogenannten Verfasserlexikon) und anderer leicht zugänglicher Forschungsliteratur zu finden sind (vgl. die kommentierte Bibliographie); schließlich einen Versuch, unseren Ansatz zur Berthold-Interpretation zu skizzieren.




 

In seinen mittelhochdeutschen Predigten macht Berthold den Eindruck eines höchst reaktionären Zeitgenossen:

"Wer getoerste gewuochern, gefürkoufen oder pfant behaben oder gerouben oder gesteln oder ê gebrechen, sô man die hôhen herren saehe ze banne getuon unde dar nâch in die âhte tuon unde dar nâch êlôs unde rehtelôs sagen und dar nâch den lîp nemen, unde den nidern daz selbe taete, unde hiute zehene hienge und morgen zehenen daz houbet abe slüege, dise radebrechte, jene brente, dise an der siule slahen, jene binden an den kirchzûn? Sô sprichet der ketzer, ez müge nieman einem menschen sînen lîp genemen âne toetlîche sünde mit gerichte.

"Wer würde es denn noch wagen, Wucher und Vorkauf zu treiben, ein Pfand zurückzuhalten, zu rauben, zu stehlen oder die Ehe zu brechen, wenn man sähe, wie auch die hohen Herren mit dem Bann belegt, dann in die Acht getan, für rechtlos erklärt und schließlich getötet würden, und wenn es denen aus niederem Stand genauso erginge: wenn man heute zehn aufhängen, morgen zehn köpfen würde, die einen rädern, die anderen auf dem Scheiterhaufen verbrennen, die einen an den Pranger stellen, die anderen an den Kirchhofzaun binden würde? Nur ein Ketzer behauptet, daß kein Mensch einen anderen zum Tode verurteilen könne, ohne eine Todsünde zu begehen."
(zitiert nach: Berthold von Regensburg, Vier Predigten. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, übersetzt und herausgegeben von Werner Röcke, Stuttgart [Reclam] 1983, S.160 und 161)



Biographie

Der Franziskaner Berthold von Regensburg, vermutlich um 1210 in Regensburg geboren, gestorben am 14. Dezember 1272 ebenda, verdankt seinen Beinamen seiner Zugehörigkeit zum Minoritenkloster in Regensburg, in dem er auch begraben ist. Noch heute kann man dort seinen Grabstein sehen, auf dem zu lesen steht:

[PRE]DICA[T]OR · ORDINUS · FRM · MINOR
UM · † ANNO ·
DNI · M · CC · LXXII · XVIIII · KLN · IAN · O[BIIT]

"Am 14. Dezember im Jahre des Herrn 1272 starb der Prediger des Minoritenordens."
Bertholds Name ist heute nicht mehr zu erkennen.

Zu Lebzeiten und noch lange nach seinem Tod war Berthold berühmt für seine Predigten. Seine Predigtreisen, die ab 1240 bezeugt sind, führten ihn durch ganz Süddeutschland und die Schweiz und wohl auch nach Frankreich und Ungarn. 1263 wurde er zusammen mit Albertus Magnus (der 1260 bis 1262 Bischof von Regensburg gewesen war) von Papst Urban IV. beauftragt, als Kreuzzugsprediger durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz zu ziehen und gegen die Häretiker zu predigen.

Bertholds Predigten sollen bis zu 200.000 Zuhörer angezogen haben, so daß er auf freiem Feld statt in der Kirche predigte; der Überlieferung nach benutzte er ein Fähnchen, um die Windrichtung festzustellen, und forderte seine Zuhörer auf, sich entsprechend zu setzen. Die wohl übertriebenen Zuhörerzahlen wurden von den Chronisten des 13.-16. Jh. angeführt, um die große Wirksamkeit von Bertholds Predigten hervorzuheben; in manchen Berichten ist sogar von Wundern die Rede, die sich während seiner Predigten ereignet haben sollen. In weiteren Berichten werden Bertholds große Fähigkeiten zur Schlichtung von Familien-, Kirchen-, und Regierungsstreitigkeiten dargestellt.

Unter Bertholds Namen sind fünf lateinische Predigtsammlungen überliefert, von denen drei als authentisch gelten und die zusammen ca. 300 Predigten enthalten. Ferner sind acht Handschriften mit mittelhochdeutschen Predigten erhalten; sie stammen von einem oder mehreren Bearbeitern, die (vermutlich im Augsburger Minoritenkloster) Bertholds lateinische Predigten wieder ins Deutsche übertrugen. Weder die lateinischen noch die mittelhochdeutschen Predigten sind wortgetreue Nachschriften von Predigten, die Berthold tatsächlich gehalten hat. Es handelt sich vielmehr um Handbücher für Geistliche und Bücher zur religiösen Erbauung von Adeligen.




Wie wir Berthold verstehen

Was im Zitat oben so reaktionär klingt, läßt sich vor dem Hintergrund der geistigen und gesellschaftlichen Strömungen der Zeit anders deuten: Nach franziskanischem Verständnis ist in der göttlichen Weltordnung den Menschen alles zum Leben Notwendige geschenkt; Betrug, Selbstsucht, Gier und ähnliche Laster, die Berthold in seinen Predigten kritisiert, verstoßen gegen diese Harmonie und gefährden damit die menschliche Gesellschaft.

Bertholds Vehemenz erklärt sich von daher aus dem - aus seiner Sicht - Ausmaß der Gefahr, gegen die er sich wendet. Es ist die während des Hochmittelalters am Horizont auftauchende bürgerliche Gesellschaft der Neuzeit mit ihrer Betonung von Selbstbehauptung, Streben nach materiellem Besitz, Autonomie und Individualismus, die auf seinen entschiedenen Widerspruch stößt. Er entziffert sie in seinen Predigten als blinde Reaktion auf die Tatsache, daß den Menschen das Vertrauen in die Heils- und Naturordnung abhanden gekommen ist und sie sich, auf dem Wege der Häresie oder der Ausbildung bürgerlicher "frühkapitalistischer" Mentalitäten, gleichsam alternative Konzepte der Lebensbewältigung zu eigen gemacht haben - Konzepte, die, wie Berthold meint, zu einer wirklichen Bewältigung der zeitgenössischen Krise nicht taugen.

Berthold verkörpert mit dieser Auffassung die ursprüngliche franziskanische Position, die raison d'être des Ordens. Doch die Konsequenz, die der Ordensgründer Franziskus aus der Einsicht in diesen Angst- und Krisenzusammenhang noch gezogen hat: den Menschen das Vertrauen auf eine gute, für den Menschen eingerichtete Welt zu vermitteln (man lese beispielsweise seinen weltbejahenden Sonnengesang), verändert sich bei Berthold zu einer mit den Mitteln des Schreckens und der Angst operierenden Drohbotschaft.

Dieser verstörende Befund läßt sich bis zu einem gewissen Maße durch den kirchenpolitischen Umstand erklären, daß der Franziskanismus im Anschluß an seine Anerkennung als Orden unter Honorius III. im Jahre 1223 den traditionellen Herrschafts- und Disziplinierungsinteressen der hochmittelalterlichen Kirche dienstbar gemacht werden konnte und seinen revolutionären Anspruch, im eigentlichen Sinne Befreiungstheologie zu sein, aufgeben mußte.

Auch Berthold von Regensburg leistete in diesem Zusammenhang seinen Beitrag: Als Ketzerprediger. Seine Predigten zeigen, daß dies für ihn völlig unproblematisch war, obwohl der ausgrenzende Gestus, mit dem die Ketzer von ihm attackiert werden, in eben jener sich absolut setzenden Subjektivität wurzelt, der sich auch der von ihm so leidenschaftlich bekämpfte häretische und bürgerlich-kapitalistische Separatismus verdankt.

Der Verweis auf die kirchenpolitische Funktionalisierung des Franziskanerordens reicht indes nicht aus, um diese Paradoxie zu erklären. Ihre letzte Ursache hat sie vielmehr in der spezifischen Verfaßtheit der Neuzeit und ihrer im katastrophischen Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit entstandenen verabsolutierten Subjektivität. Gemeint ist eine Subjektivität, die aufgrund des spätmittelalterlichen “Ordnungsschwundes” (Hans Blumenberg) gezwungen ist, sich zu autonomisieren, und das heißt: zur absoluten Instanz auszubilden. Dieser Vorgang ist - einmal ausgelöst - irreversibel und wird durch Kritik nur beschleunigt. Denn eine solche Kritik, wie sie etwa Berthold in seinen Predigten übt, setzt die Anerkennung dieser Subjektivität und die Übernahme ihrer Prinzipien voraus und wird damit zum Teil des Kritisierten: Unfreiwillig reproduziert sie die Verhärtung und die Abgrenzung, die sie doch aufheben will. In diesem Widerspruch steht nicht nur Bertholds Ketzerpredigt, er prägt auch seinen dezidiert vorgetragenen "Heilsindividualismus": Die von Berthold konsequent durchgehaltene persönliche Anrede des einzelnen "Sünders" - "sich, gîtiger!" - bestätigt und stärkt ungewollt die Position des autonomisierten Subjekts, gegen die er doch zugleich unablässig polemisiert.

Im hoch- und spätmittelalterlichen Franziskanismus, der selbst schon paradoxes Ergebnis des Epochenbruchs ist, verkörpert sich dieser Widerspruch exemplarisch. In Bertholds Predigten - siehe das obige Zitat - realisiert er sich als permanente Ambivalenz von Befreiung und Unterdrückung. Dieser Ambivalenz entkommt auch Bertholds Festhalten an den Idealen des Ordensgründers nicht. So gilt er in der Forschung als Sympathisant jenes spiritualistischen Ordensflügels, der wenige Jahrzehnte später um der Bewahrung des radikalen Armutsideals willen einen scharfen Konfrontationskurs zur Kurie einschlägt. Aber auch dieser bis heute umstrittene franziskanische Spiritualismus ist schon völlig verstrickt in das, was er ablehnt, insofern er sich bereits ganz im Geiste neuzeitlicher Selbstbehauptung artikuliert - ein Geist, dem sich Franziskus (zumindest, wenn man seinem Biographen Raoul Manselli glauben möchte) auf paradoxe, weil nicht-konfrontative Weise zu entziehen von Anfang an bestrebt war.

Es ist nun genau diese unhintergehbare, zugleich in bemerkenswerter Deutlichkeit zutage tretende Ambivalenz, die Berthold aus unserer Sicht zu einer faszinierenden Figur der Epochenschwelle macht. Diese Ambivalenz möchten wir ausloten, wir möchten ihren Voraussetzungen und Hintergründen nachgehen, wir wollen sie als Interpretationshypothese zur Diskussion und in den Rahmen der Debatte um den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit stellen.

Und wir fragen uns schließlich: Sollte Berthold zum Ende seines ereignisreichen Lebens doch etwas geahnt, gespürt, verstanden haben von dieser Ambivalenz? Wir wissen, daß er sich in seinen späteren Jahren nach Regensburg in das dortige Minoritenkloster zurückzog; geschrieben hat er im Alter nichts mehr. Seine literarische Produktivität versiegte. Geht dies möglicherweise auf wachsende Zweifel an dem zurück, was er jahrzehntelang verkündet hat? War ihm die innere Widersprüchlichkeit seines Standpunktes zu Bewußtsein gekommen?




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